Jochen Becker | Seminare für Friseure

Die Schokolade des Feindes

Eine Lebensgeschichte aus der Krise des 1. Weltkriegs

Tote sprechen nicht – Geschichten von beeindruckenden Menschen, aus Zeiten der Krise!

Gleich vorweg:
„Bei den meisten Menschen, die ich bisher in meinem Leben treffen durfte & sie mir beeindruckende Einblicke hinter die Kulissen ihres Lebens gewährten, war der Moment der größten Niederlage, der Schlüssel für ein glückliches & erfülltes Leben.

Woher stammen die Geschichten?
Von Menschen, die ich in meiner Tätigkeit als Zuhausfriseur & Salonfriseur in nun über 30 Jahren erfahren durfte.
Am authentischsten wurden mir die Geschichten in den eigenen 4 Wänden meiner Kunden erzählt – leider leben die meisten nicht mehr.
Was sie alle einte, war die Fähigkeit, aus schlimmen Ereignissen – teils selbst verschuldet, teils unverschuldet – die Zauberformel für ein glückliches & erfülltes Leben abzuleiten.

Einziges NoGo:
„Jammern & rumsitzen, darauf warten, dass jemand anderes mein eigenes TUN übernimmt!“

Namen & Orte wurden natürlich verändert.

Die Schokolade des Feindes!
Mein Terminkalender 2008 war gut gefüllt, ein schöner Tag im Frühling. Dies führte dazu, dass meine Laune Extrem gut war.
Es war nicht mehr weit bis zur Tür meiner Zuhausfriseur Kundin, nennen wir sie liebevoll Frau Siemer.
Nachdem klingeln dauerte es ein wenig, denn Frau Siemer brauchte mit ihren 94 Jahren etwas länger zur Tür.
Ohne Stock oder anderer Gehilfen – alleine das motiviert mich seitdem, mich aufs Alter zu freuen. Ohne die Angst vor Gebrechlichkeit im Alter. Frau Siemer sagte immer, es ist dumm negativ zu denken!
Ja, Frau Siemer war eine tatkräftige & fröhliche Frau – ein Mensch mit unglaublicher Ausstrahlung und extremen Erlebnissen, wie ich an diesem Nahmittag unverhofft erfahren sollte.
„Oh Herr Becker, sie sind ja heute noch besser gestimmt, als sonst!“
Frau Siemer lächelte dabei verschmitzt & fragte, ob wir zuerst einen Kaffee trinken wollen oder erst, wenn die Haare unter der Schwebehaube trocknen?
Ich entschied mich erst einmal gemeinsam einen Kaffee zu trinken – so konnte ich dann während der Trocknungszeit in Ruhe meine Zeitung lesen. Ja, Handys waren vor 12 Jahren noch nicht so nutzbar wie heute & Frau Siemer hörte schlecht unter der Trockenhaube.
Hinzu kam noch, dass der Folgetermin abgesagt hatte.
„Möchten Sie auch einen Keks oder ein Stück Schokolade Herr Becker?
Mhh, wenn Frau Siemer so lieb fragt, warum nicht und nahm ein wirklich gut schmeckendes Stück Schokolade.
„Wissen Sie eigentlich, dass Sie mir heute nur die Haare machen können, weil mir ein unbekannter Mann vor 90 Jahren, also mit 4 Jahren, ein Stück Schokolade gegeben hat?
„Nein Frau Siemer, das weiß ich nicht, aber die Geschichte dazu, die interessiert mich sehr!“

Frau Siemer zögerte nicht lange & begann mir ihre Geschichte zu erzählen – zuerst ließ sie sich aber noch sichtlich das Stück Schokolade genüsslich auf der Zunge zergehen.

Mit 4 Jahren bestand mein Körper nur aus Haut & Knochen Herr Becker – nicht sprichwörtlich, sondern genauso – Haut & Knochen!
Meine Adern verliefen sichtbar, wie kleine Straßen unter meiner Haut. Wenn man drüber strich, spürte man jede einzelne und hatte Angst, sich dabei zu verletzen.

Mit 4 Jahren, in der Zeit des ersten Weltkrieges, wusste ich instinktiv, dass es mir bald so ergehen wird, wie meinen Eltern – diese waren durch die herabfallenden Bomben in unzählige Stücke zerrissen worden. Andere Familienangehörige lagen tot herum, teils zuvor von grausamen Soldaten missbraucht & danach erschossen.
Es wurden auch einfach nur zum Spaß auf die geschossen, die verzweifelt und ohne Ziel herumliefen.

Mich hat man wohl übersehen oder keine Lust gehabt, auf mich zu schießen. Es kann auch das verzweifelte Schreien gewesen sein, dass so laut & verzweifelt gewesen war, dass ich bis heute noch nachts davon aufwache.

Plötzlich umarmte mich ein riesiger Schatten. Ein großer, starker Mann kniete vor mir nieder, lächelte mich freundlich an und sagte etwas zu mir, was ich nicht verstehen konnte.
Was ich verstanden habe, war das Stück Schokolade, was er mir vor den Mund hielt. Als es meine hauchdünnen Lippen berührte, öffnete ich meinen Mund.
Diesen wundervollen Geschmack vergesse ich nie wieder.

Ab diesem Moment vertraute ich diesem fremden Menschen und mein Schreien verstummte.
Er nahm mich auf seine Arme und wir rannten gemeinsam eine ganze Weile wild durch schier nicht enden wollende Landschaften.
Wie lange wir gelaufen sind, weiß ich nicht mehr – aber an das plötzliche zittern durch die Kleidung hindurch meines Schokoladen Mannes, daran erinnere ich mich noch bis heute.
Wir näherten uns einem Hof.

Der Mann klopfte mehrmals laut gegen die Holztür.
Als jemand die Tür öffnete, fing mein Schokoladenmann sofort an zu reden, mit sanft bebender Stimme ohne dass ich die Worte verstanden habe.
Der Hofbesitzer hat wohl verstanden, was mein Schokoladenmann von ihm wollte. Kurz darauf kniete er sich noch einmal zu mir herunter, strich mir ganz zart über meine Wangen und lächelte.
Gleichzeitig drückte er mir den Rest der Schokolade in meine Hand und verschwand für immer in dem dunklen Wald hinter dem Hof – ich habe meinen Schokoladenmann nie wieder gesehen!

Später erzählten mir die Leute, meine späteren Adoptiveltern, dass der Schokoladenmann ein Soldat des Feindes war, mein Retter – trotz aller Gefahren für sich selbst, nahm er mich und suchte für mich ein neues Zuhause.
Auch Schokolade zu verschenken, war in den Zeiten des 1. Weltkrieges nicht selbstverständlich!

Was ihr aus dieser Geschichte lernt, überlasse ich euch – genauso, wie Frau Siemer es mir überlassen hat.

Bleibt gesund & nutzt die reichhaltigen Chancen, die sich einem jeden Tag bieten – mal sichtbar, mal ganz überraschend und so für ein langes, erfülltes & glückliches Leben führen können.
Frau Siemer wurde fast 100 Jahre alt!

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